
Gäste
17.03.2018 | VP, EZ, AC, WLAN und TV.
Ich führe die Tour zum ersten Mal. Das ist anstrengend. Zugleich aber spannend. Ich muss mich einarbeiten, Karten studieren, Namen, Orte und die Sprache pauken, damit ich auf Fragen antworten kann, nicht alles nachschlagen muss und mit den Einheimischen wenigstens rudimentär kommunizieren kann. Wenn ich allein reise, lasse ich mich treiben, erfahre alles mit mehr Ruhe und kann Neues wirklich genießen. Die vier deutschen Gäste kommen einen Tag nach mir in Kathmandu an und warten seit einer halben Stunde am Flughafen. Unangenehm. Den Verkehr hatte Mr. Bsim falsch eingeschätzt. Aber alle sind gut gelaunt und freuen sich auf den Urlaub. Ich taxiere schnell meine Leute: Neue Ausrüstung – unbenutzt und hochpreisig. Verkäufer haben ein gutes Gespür für die Leidensfähigkeit des Geldbeutels, wenn ein exklusives Ziel genannt wird.
Der Blick wandert von den Gesichtern zu den Schuhen. Entgegengesetzt zum Rest der Sachen hat dieser Ausrüstungsgegenstand oft eine besorgniserregende Alterung erlebt: Schuhsohlen lösen sich während der Tour und müssen mit Nylonband geflickt werden. Das hält natürlich nicht, Bandschlingen werden aufgetrennt. Oder das andere Extrem: Die Schuhe sind nagelneu. Blasen. Der Hinweis, bitte nur eingelaufene Schuhe zu benutzen, wird oft nicht befolgt. Warum auch? Zwei Stunden Spaziergang in der City müssen reichen. „Warum bekomme ich denn Blasen? Blasenpflaster? Hab ich nicht. Wie klebt man die denn auf? Ach, danke, dass Du das machst…“ Einheimische, oft nur mit Flipflops unterwegs, wundern sich. Wie soll jemand, der in der Kindheit zwei Stunden zur nächsten Schule gehen oder einen mehrtägigen Fußmarsch bis zum nächsten Krankenhaus absolvieren muss, verstehen, dass man sich nach einem Tag in ungetragenen, teuren, guten Schuhen aus Europa Blasen läuft?
In einigen Ländern kann man nicht die gleichen Annehmlichkeiten wie in Europa erwarten. Das tun auch die wenigsten. Und wiederum doch. Als Europäer ist man so sehr an gute Straßen, elektrischen Strom, fließendes Heißwasser, WLAN, 3-lagiges Toilettenpapier und Kühlschränke gewöhnt, dass es einem manchmal gar nicht auffällt, wenn man die Menschen in diesen Ländern mit für sie schwer zu erfüllenden Wünschen konfrontiert: Warmes Wasser für die Morgentoilette steht am Kilimandscharo wie selbstverständlich jeden Morgen bereit und erst nach und nach entsteht ein Bewusstsein dafür, welche Mühen das dem Team bereitet. Genauso wie der Silvester-Kuchen, pünktlich um 0:00 Uhr auf 4800 Metern in einem zerbeulten Topf gebacken.
Essen ist ein wichtiges Qualitätskriterium für viele Reisende. In Südtirol ist das natürlich kein Problem, aber in Afrika, Südamerika oder Asien gibt es eben keine frische Pasta. Reis mit Linsen, Pickles und Chilis um Durchfall vorzubeugen? Oder lieber Imodium? Milchpulver und löslicher Kaffee? Nein, dann doch lieber Spaghetti mit Tomatensoße und Cola. Wenn die Pizza dann aber nicht wie versprochen im Steinofen mit Hefeteig gebacken wurde sondern sich als eine in der Pfanne gebratene Tiefkühlscheibe entpuppt, ist man enttäuscht und schaut doch irgendwie neidisch auf das landesübliche Essen am Nebentisch.
Wasser ist knapp. Wer täglich zwei oder drei Liter Wasser trinken und keine Plastikflaschen kaufen will, dem bleibt nichts anderes übrig, als den Filtern zu vertrauen. Das Wasser aber zusätzlich zum Kochen zu bringen bedeutet in einem Land wie Nepal, in dem 80% aller Menschen noch mit Holz kochen, zu weiterer Abholzung beizutragen. Wärme kommt auch durch Bewegung oder gute Kleidung. Morgens hilft ein Glas warmer Tee natürlich. Aber den Tag über weiterhin warmes Wasser verlangen? Warum nicht den ohnehin tagsüber aufgeheizten Körper einfach mit Wasser befriedigen? „Gibt es heute kein warmes Wasser? Einen Tag gar nicht waschen?“ Nach einer Woche wird Duschen mit kaltem Wasser erträglich.
In vielen Ländern stellt der Tourismus einen wichtigen Wirtschaftszweig dar, trotzdem gebührt den dort lebenden Menschen Respekt. Sie sind nicht einfach Dienstleister, sondern Gastgeber. So exotisch alles auf uns wirken mag – ungefragt die Objektive schwerer Spiegelreflexkameras direkt einen Meter vor das Gesicht zu schwenken, grenzt in meinen Augen an Beleidigung. Ein die Intimsphäre verletzender Vorgang. Die gemachten Fotografien scheinen für viele die intensivsten Erinnerungen zu liefern. Klar, man hat den teuren Klotz ja nicht umsonst mitgeschleppt. Eine kleine, leichte Sucherkamera, die vielleicht nicht ganz so brillante Bilder liefert, reicht aber vielleicht und ist schneller bereit.
Teure, neue Jacken und Schuhe werden selten verschenkt. Ein zu großes Opfer. Lieber von zu Hause anonym über undurchsichtige Hilfsorganisationen und Kanäle Geld schicken. Gebrauchtes und nicht mehr topaktuelles Equipment sieht vielleicht auf Profilbildern nicht so vorteilhaft aus, bringt den einheimischen Menschen aber viel mehr, als Jacken, die nicht verschenkt werden. Eine nach der Reise verschenkte, gute Synthetik-Arbeitshose ist zwar nicht so prestigeträchtig für den neuen Besitzer wie eine europäische Super-High-End-Berghose. Aber nach zwei Wochen Arbeitseinsatz auf dem Feld geht sie nicht direkt in Fetzen. Außerdem macht es Spaß, von den Menschen direktes Feedback zu bekommen:
„…Today I have Received Your best binocular Many thank you very much from my Heart. for, and Special Best for me and Very Best so. today is my Special day, my Happy Day and to me such a Special day is to day That You made me. And many thank you very much from my Heart for your Kinds Best Special You are for me. actually i do not have Words to Enough to Thanks for you and to tell to You for Your big kinds help for me this Binocular is really Best For me, Now i have every things Enough Equipments for my work and my occupation as a Guide Mountain and Birds watching. But These were actually very expensive for me to manage them But now you make me possible, Many thank You very Much, my tears came because of You made me Happy.“
Ein 8 kg Rucksack sollte nicht 18 kg wiegen und es kommt oft vor, dass bei der Durchsicht Equipment aussortiert werden muss. Im besten Fall. Manch einer lässt sich nicht beirren und möchte das Wahnsinnsgewicht unbedingt mitschleppen, trotz der Warnung, dass dies die Tour möglicherweise unmöglich oder zumindest zur Qual machen könnte. Man trägt ja auch nicht immer selbst. Auf dem Annapurna Circuit trägt jeder Teilnehmer nur einen Tagesrucksack und hat zusätzlich 15 kg zur Verfügung, die von Trägern übernommen werden. Also trägt jeder der Jungs 30 kg, was in Nepal als Single Load gilt. 60 kg stellen einen Double Load dar. Das geht 10 Jahre ganz gut.
Ich trage aus Solidarität mein eigenes Gepäck selbst und gerate damit in eine schwierige Situation, die für mich alle Probleme, die ich mit dieser Form des Reisens habe, in sich vereint: Auf der einen Seite trägt man dazu bei, ein weniger entwickeltes Land zu unterstützen, indem man Geld in das Land trägt. Die Menschen dort haben durch uns Arbeit und verdienen vergleichsweise gutes Geld. Auch die mehr oder weniger großzügigen Trinkgelder der Gäste sind ein wichtiger Einkommensfaktor. Man kann den Menschen schwer zu beschaffende Ausrüstungsgegenstände schenken und ihnen zumindest ein Bild von interessierten, weltoffenen Europäern vermitteln, die sie nicht von oben herab behandeln. Etwas wie: „ …Wieso? Die Erde ist doch flach… “ bestärkt mich immer wieder, dass der Austausch zwischen Kulturen wichtig ist.
Andererseits ist man natürlich durch seinen Besuch zu einem Teil eines Problems geworden, dass viele als störend empfinden: „Warum haben die Menschen hier nicht ihren ursprünglichen Lebensstil beibehalten? Das wirkt hier alles so westlich. Es wäre viel schöner, wenn das ganze Land noch so aussähe, wie dort oben in den abgelegenen Tälern…“ Diese Menschen wollen natürlich den von den Touristen vorgeführten und im Fernsehen und Internet dargestellten Reichtum der westlichen Welt für sich erleben, erfahren und kaufen können. Die Gäste erwarten aber die ebenso dargestellten Idealbilder einer Kultur, die dabei ist, für immer zu verschwinden. Wenn drei Tagesmärsche bis zum nächsten Krankenhaus nötig sind, dann weiß ich, welches Problem für eine solche Gesellschaft das kleinere ist. Und mir wird wieder einmal klar – auch durch meine eigenen unwichtigen, arroganten und selbstzufriedenen Guide-Gedanken meinen eigenen Gästen gegenüber (Scheiße, schon wieder fremde Rucksäcke tragen…) – dass auch ich ein Gast bin.