Wohin? Warum?

13.09.2017  |  Planlos nach Iran.

Der Bus aus Shiraz erreicht Isfahan. Nach der Fahrt durch das karge iranische Hochland bei 40 Grad Celsius liegt noch einmal eine ähnlich lange Strecke vor mir, bevor wir um Mitternacht in Teheran ankommen. Wie ein Traum erscheinen mir die vergangenen 12 Tage, und mein Blick verliert sich in der Weite der Landschaft. Ich versuche mich zu erinnern: Warum bin ich eigentlich hier?

Angefangen hatte es damit, dass mein Bruder, als berginteressierter Geograph, mir gegenüber den Damavand erwähnte. Mit 5604 Metern einer der großen, freistehenden, aktiven Stratovulkane der Erde. Rheinhold Messner ist 1970 bei einer Winterbesteigung wegen schlechter Wetterverhältnisse gescheitert. Mein Ehrgeiz meldet sich. Ich werde es im Juni versuchen. Noch früh genug, um damit den Besucheranstürmen im Sommer aus dem Weg zu gehen. Der Flug ist gebucht, das frühzeitig beantragte Visum kommt genau drei Tage vor Abflug an.

Ich sitze im Flugzeug in ein islamisches Land. Werde ich als Europäer überwacht oder durchsucht werden? Am Zoll werde ich durchgewunken. Meine Reise sollte ursprünglich ohne Buchungen auskommen. Jetzt bin ich froh, mich vor Abflug aus Istanbul doch noch informiert zu haben, und komme verschwitzt in einem kleinen Backpacker-Hostel an. Iris: auf dem Weg zum Südpol. Michael: mit seinem Fahrrad von Jersey aus nach Hongkong unterwegs. Ein verrückter Pole ist mit seinem alten 50 cm3 Roller nach Wladiwostok unterwegs. Mori, der Besitzer des Hostels und Reza, sein afghanischer Angestellter, unter der Treppe in einem Verschlag hausend, helfen mir mit der Anleitung für die Waschmaschine.

Hauptverkehrsachse in Teheran

Hauptverkehrsachse in Teheran

Eingang zum Basarviertel in Teheran

Eingang zum Basarviertel in Teheran

Heute ist für mich Ruhetag und ich streife durch das Basarviertel. Irgendwann vor allem auf der Suche nach Essen – Ramadan. Kaleh pacheh, ein Eintopf aus ausgekochten Hammelköpfen? Mir fallen Menschen auf, die jetzt, zur Mittagszeit, mit Essen aus einer unscheinbaren, schummrig beleuchteten Garküche kommen. Drinnen werden Bestellungen durcheinander gerufen. Eine junge Iranerin spricht mich in perfektem Englisch an und hilft mir. Huhn, Safranreis, Granatapfel und Pistazien. Cola.

Im Schatten einiger Bäume, versuche ich die Hitze zu ertragen, als sich ein mit Maschinengewehr bewaffneter Soldat vor mir aufbaut: „Was machst Du hier?“ Ängstlich verstecke ich mein Essen; er will nur ein Selfie mit mir machen. Ein Schneider repariert meinen eingerissenen Rucksack, lächelt freundlich und nimmt kein Geld von mir an. Für die 80 km bis nach Polur, dem Ausgangspunkt meiner Damavand-Besteigung, leiste ich mir eine acht-Euro-Fahrt in einem klapprigen, grünen Peugeot und frage mich, wem die BMW und Porsche-Limousinen gehören mögen, die ich vereinzelt auf der sehr kreativ genutzten Autobahn sehe.

Der Wetterbericht prophezeit Neuschnee von 40-60 cm am Gipfel. Also kommen auch Pickel und Steigeisen mit. An der Station der Iranian Mountain Federation kommt ein Mann herausgestürzt. Tee? Leider nicht, sondern das Permit für 600.000 Rial. Ein Koreaner will in Turnschuhen hoch und schaut sich entsetzt meine Doppelschuhe an. Später hält neben mir ein Auto und ein junger Familienvater drückt mir lächelnd und ohne weiteren Kommentar kleine Gurken, Kirschen, Pfirsiche und Birnen in die Hand. Ich besitze keine Karte, nur ein Foto von der völlig verzerrten Panorama-Darstellung in der Station, die Süd-, Nord- und Ost-Routen gleichzeitig zeigt. Die Hunde der Nomaden spielen verrückt als ich mein Zelt aufschlage. Nachts ein unfassbarer Sternenhimmel und am Morgen bekomme ich Besuch von neugierigen Iranern. Auch Ali, ein Arzt aus Teheran, der mit seiner Familie hier wandert, bittet mich darum, ihn bei meiner Rückkehr nach Teheran unbedingt anzurufen.

Ich gehe in der Mittagshitze weiter, da ich endlich Schnee erreichen will um wieder trinken zu können. Tausende riesiger, roter Mohn-Blüten wiegen sich im Wind und begleiten mich von nun an bis zur „Moschee“. Diese erreiche ich am frühen Nachmittag und werde von einem sonnengegerbten älteren Herrn angesprochen, der mich in seinen 20-Fuß-Übersee-Container auf einen Tee einlädt. Massoud scheint hier während der Saison Maultiere zu hüten. Er gibt mir seine Karte: „Mountain Guide“. Ich ziehe die Schuhe aus und lege mich völlig erschöpft auf einen Teppich und genieße ein Glas Wasser, dann einen starken, süßen Tee, der den Durst noch besser löscht. Ganz alleine schaffe ich das hier wohl doch nicht.

Massoud

Massoud

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Mein Zelt bleibt zurück. Außerdem einige Dinge, die mir zu schwer erscheinen. Dazu gehören auch die Steigeisen. Der Pickel kommt mit. Nach dreieinhalb Stunden komme ich an der Hütte auf 4200 Metern an und versuche, mich etwas auszuruhen. Mit meinen rudimentären Zahlenkenntnissen und zur Belustigung des afghanischen Hüttenpersonals kaufe ich Wasser und eine Dose Pepsi. Am nächsten Tag kaufe ich einen ewig haltbaren Eintopf mit undefinierbarem grünen Gemüse und spiele mit zwei iranischen Bergführern Karten. Ich steige bis auf 4700 Meter auf, um mich zu akklimatisieren und bekomme Kopfschmerzen. Der Koreaner kommt halberfroren zurück. Er ist in Turnschuhen und mit seinen Socken als Handschuhersatz aufgestiegen.

Um vier Uhr stehe ich auf. Tee und ein paar Riegel, die ich letztlich nicht essen werde, wandern in den Rucksack. Ich versuche gleichmäßig zu gehen. Weit hinter mir am Horizont sehe ich die Lichter Teherans. Im Dunkeln aufzusteigen, ist jedes Mal eine neue Erfahrung: an jedem Berg ist es auf merkwürdige Weise ganz neu. Fragen kommen und gehen: Wetter? Wie kalt? Reicht die dünne Hose? Stiefel zu schwer? Komme ich ohne die Steigeisen aus? Schnell aber beginnt die Monotonie des Steigens zu wirken, nach einer Weile existieren nur noch meine Wahrnehmung in Form von Bildern, Geräuschen, Kälte-Empfinden und meine Gedanken. Alles zieht vorbei. Ganz gleich, ob äußeres Bild oder Gedanke. Unwichtig, was genau da vorbeizieht. Ich werde zum Beobachter.

Der Blick öffnet sich. Langsam komme ich meinem eigentlichen Ziel näher, den Schattenkegel sehen zu können. Ich beginne zu frieren und ziehe Daunenhandschuhe an. Auch meine Schneebrille hilft, dennoch treffen weiterhin tausende Eiskristalle wie Nadelstiche den Rest des ungeschützten Gesichts und die Kälte zieht durch die Kapuze, in den Kragen und unter meine Jacke. Die angeblich so schlimmen Schwefel-Dämpfe kann ich relativ früh riechen, sie kommen und gehen, manchmal kaum wahrnehmbar, dann beißend und intensiv. Plötzlich wird es extrem unangenehm, die Luft zum Atmen fehlt. Innerhalb von zwei Minuten habe ich das Gefühl, nicht mehr weiter zu können. Umkehren? Ich könnte hier wirklich ersticken. Direkt neben mir taucht aus dem Nebel eine Fumarole auf, die Schwefelwasserstoff, CO2 und Wasserdampf direkt in mein Gesicht pustet. Keine geeignete Atemluft. Weiter. Die Dämpfe liegen hinter mir und ich kann wieder sehen: Der Gipfel.

Der Schattenkegel des Damavand bei Sonnenaufgang

Der Schattenkegel des Damavand bei Sonnenaufgang

Schwefelablagerungen am Gipfel

Schwefelablagerungen am Gipfel

Wie aus dem Weltraum kann ich tief unter mir die Strukturen der Täler, Bergketten, Straßen und Seen erkennen. Ich bin total fertig, nachdem ich die Schwefeldämpfe abbekommen habe und frage mich, ob das irgendwelche langfristigen Auswirkungen haben kann. Eine halbe Stunde unter mir müht sich ein zweiter Mensch ab. Ich bin also nicht ganz allein. Ich bin nicht so überwältigt, wie ich es schon auf anderen Gipfeln war. Hier ist alles etwas rauer. Kein Gedanke an Stolz oder Glück. Jetzt gerade ist da nur der Ausblick. Die Augen genießen. Nach insgesamt sechseinhalb Stunden erreiche ich die Hütte und bin überglücklich. Zwei Stunden später stehe ich wieder vor der kleinen Moschee. Auf den letzten Metern treffe ich Ali, den Arzt aus Teheran. Er lädt mich spontan zum Essen mit seiner Familie ein: Süßigkeiten, Dugh, Hammelfleisch mit Bohnen, Brot, Reis, Joghurt und Kräutern. Satt und zufrieden aber irritiert beantworte ich, so gut es geht, noch Fragen zu Hitler. An Massouds Container noch schnell einen Tee, was eine halbe Stunde dauert. Zum Abschied schenke ich ihm meinen Höhenmesser, für ihn ein unerschwingliches Statussymbol. Er zeigt mir einen alten Hirtenweg, der meinen Abstieg um einiges verkürzt und nach drei Stunden komme ich völlig fertig in Polur an. Auf dem letzten Stück nimmt mich eine junge Familie in ihrem uralten Auto mit. Mehrere Zehen bluten. 12 Stunden unterwegs, davon 3400 Meter Abstieg.

Nach einer Nacht auf dem kühlen Dach des Hostels, erfahre ich am Morgen, dass einige Jugendliche dabei erwischt wurden, wie sie Techno hörten: das bedeutet zehn Peitschenhiebe. Ich fahre mit der Metro, in der man Socken, Zahnbürsten und Funken sprühende Spielzeugpistolen kaufen kann, zum South Terminal, um die Busfahrt nach Isfahan zu organisieren. Die Fahrt ist geprägt von drückender Hitze, der Eintönigkeit der iranischen Hochebene und alten Lastwagen, die überladen, unbeleuchtet und in Rußwolken gehüllt auf den schnurgeraden und teilweise mehrere hundert Meter auseinander liegenden Fahrspuren riesige Strecken zurücklegen. Die Mondlandschaft draußen ist spektakulär: die Ebene wird immer wieder von steilen, roten, braunen, ocker- und beigefarbenen Inselfelsen unterbrochen.

Blaue Moschee in Isfahan

Blaue Moschee in Isfahan

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Isfahan ist eine wunderschöne und im Zentrum weitestgehend ursprünglich belassene Stadt wie aus 1001 Nacht. Ich besuche ein Teppichgeschäft. Ein grünes Exemplar zieht mich hypnotisch an und der Verkäufer kann es partout nicht verstehen, dass sich ein Europäer diesen wunderschönen 2000 € Teppich nicht leisten kann. Nach Iran kann man nur Bargeld mitnehmen. Kredit- und EC-Karten sind aufgrund der Sanktionen nutzlos. Im Bus nach Shiraz läuft ein skurriles Familien-Drama auf den laut gestellten Flatscreens, eine von ihrem Mann gedemütigte Frau erschlägt diesen in Zeitlupe. Ich suche mir eine billige Absteige für die Nacht und am Morgen folgt ein kurzer Besuch in Persepolis, der riesigen Palastanlage des Achämenidenreiches mit seinen fantastischen Reliefs. Der ältere Herr, der mich dorthin fährt, spendiert mir ein widerlich schmeckendes Rosenwasser-Eis. Seines verspeist er genüsslich unter wilden Manövern, um der Polizei einen angelegten Gurt vorzutäuschen.

Gegen Mitternacht erreicht der Bus Teheran. Ein Taxifahrer fragt mich, wohin ich will. Als ich ihm erkläre, dass mein Geld für eine Taxifahrt nicht mehr reicht und ich hier übernachten will, streckt er mir einen dicken Stapel Scheine hin. Ich lehne überwältigt ab, kann ihm aber die Gratisfahrt zum Hostel nicht abschlagen. Ich verbringe meinen letzen Tag damit, den Fernsehturm zu suchen, kann ihn aber vor lauter Smog nicht sehen. Im höher gelegenen, vornehmen Norden Teherans, in dem es häuserblockgroße, parkartige Grundstücke, einen Audi Showroom mit Valet-Parking und Espresso-Bars gibt, komplettiert sich mein Bild: Höfliche, hilfsbereite, liebenswerte Menschen, eine für mich nicht immer verständlich interpretierte Scharia, ein Land mit einer fantastischen, friedlichen Atmosphäre, großen Kultur- und Natur-Schätzen und ein extremes Gefälle zwischen Arm und Reich. Warum ich hier war? Neugier? Habe ich mir eine eigene Meinung bilden wollen, nicht durch Medien gefärbt? Vielleicht wollte ich mich nur frei fühlen. Gerade hier.